Robert Todd Carroll
SkepDic.com |
|
Phänomenal: Der Mozart-Effekt
von Robert Todd Carroll
Übersetzung: Larissa Wagner, MorgenWelt,
Hamburg
"Wir haben eine gemeinsame
innere Sprache der Neuronen, die uns angeboren ist, und wenn man
letztere mit den richtigen Reizen stimuliert, kann man dem Gehirn helfen,
vernünftig zu denken."
--Gordon Shaw
"Wir haben diese Tiere [Ratten]
in utero und sechzig Tage nach ihrer Geburt verschiedenen Hörreizen
ausgesetzt und sie dann ein räumliches Labyrinth durchlaufen lassen.
Und in der Tat bewältigten jene Tiere, die Mozart gehört hatten, das
Labyrinth schneller und mit nur wenigen Fehlern. Wir entfernen nun ihre
Gehirne und schneiden sie in Scheiben, um genau erkennen zu können, was
sich - neuroanatomisch gesehen - in Folge dieser Behandlung verändert
hat. Es kann durchaus sein, dass die intensive Musikbehandlung eine Art
Bereicherung darstellt, die Auswirkungen auf die räumlichen Regionen
des Hippocampus hat."
--Frances Rauscher
"Geschichten die aussagen,
dass frühe Kindheitserfahrungen letztendlich schulisches Können,
zukünftige Karrieren, und die Fähigkeit, liebevolle Beziehungen
einzugehen, bestimmen, haben keine soliden Fundamente in der
Neurowissenschaft."
--John Bruer
Der Mozart-Effekt ist ein von Alfred A. Tomatis geprägter Begriff für
die vermeintliche Steigerung der Gehirnentwicklung bei Kindern unter drei
Jahren, wenn diese Kinder Musik von Wolfgang Amadeus Mozart hören.
Die Idee, dass ein solches Phänomen existieren könnte, tauchte
erstmals im Jahre 1993 auf - an der University of California in Irvine.
Dort untersuchten der Physiker Gordon Shaw und Frances Rauscher, ein
Spezialist auf dem Gebiet der kognitiven Entwicklung, bei ein paar Dutzend
College-Studenten die Auswirkungen einer Hörprobe: der ersten 10 Minuten
von Mozarts Klaviersonate für Vier Hände in D-dur (KV 448). Sie stellten
eine vorübergehende Steigerung des räumlichen und zeitlichen Denkens
fest - ein Ergebnis, das per Messung mit dem "Stanford-Binet
IQ-Test" ermittelt wurde. Niemand sonst hat diese Resultate jemals
wiederholen können. Ein Forscher mindestens (Steven Halpern) hat sogar
ermittelt, dass es Leute dümmer machen kann, Mozart zu hören. Ein
weiterer Wissenschaftler meinte: "Das allerbeste, was man aus ihrem
Experiment schließen kann - wenn es denn völlig unbestritten wäre -
besteht darin, dass das Anhören von schlechter Musik Mozarts kurzfristig
den IQ anhebt" (Michael Linton). Inzwischen untersucht Rauscher die
Auswirkungen der Musik Mozarts auf Ratten. Und sowohl Shaw, als auch
Rauscher ergingen sich in spekulativen Vermutungen darüber, dass die
Musik Mozarts das räumliche Denken und das Gedächtnis beim Menschen
anrege.
Im Jahre 1997 gaben Rauscher und Shaw bekannt, sie hätten
wissenschaftlich nachgewiesen, dass Klavier- und Gesangsunterricht das
abstrakt-logische Denken bei Kindern besser fördere, als dies der
Computer-Unterricht bewirke.
"Das Experiment erfasste drei
Kindergartengruppen: die erste Gruppe erhielt privaten Klavier- oder
Keyboard-Unterricht, sowie Gesangs-Unterricht; eine zweite Gruppe bekam
privaten Computer-Unterricht; und eine dritte Gruppe erhielt gar kein
Training. Anschließende Tests über die Fähigkeit zu
räumlich-zeitlichem Denken zeigten: Die Kinder im Klavier/Keyboard-Programm
erbrachten eine 34% höhere Leistung als die anderen. Diese Ergebnisse
zeigen, dass die Musik eindeutig jene höheren Gehirnfunktionen steigert,
die für Mathematik, Schach, Wissenschaft und Technik erforderlich sind."*
Shaw und Rauscher haben einen ganzen Industriezweig ins Leben gerufen.
Sie haben auch ein eigenes Institut gegründet: Das "Music
Intelligence Neural Development"-Institut (M.I.N.D.). Derzeit
wird soviel über die wundersamen Auswirkungen der Musik geforscht, dass
eigens eine Website erschaffen wurde, damit sich die neuen Entwicklungen
im Auge behalten lassen: "MüSICA",
mit einer gänzlich dem Mozart-Effekt
gewidmeten Abteilung.
Shaw und Rauscher behaupten, ihre Arbeit sei falsch dargestellt worden.
Was sie gezeigt hätten sei, dass "es Muster gibt von Nervenzellen,
die nacheinander zünden, und dass es im Gehirn anscheinend Stellen gibt,
die auf bestimmte Frequenzen reagieren." Das sei eben nicht dasselbe,
wie ein Beweis, dass das Anhören von Mozarts Musik zu höherer
Intelligenz bei Kindern führt. Harte Fakten jedoch, wartet Shaw erst gar
nicht ab. Vorläufig profitiert er selbst von den Wünschen der Eltern,
die ihre Kinder intelligenter machen wollen. Kürzlich kam sein Buch/CD-Set
"Keeping Mozart in Mind" auf den Markt. Es ist seit September
1999 über sein Institut zu beziehen. Shaw und seine Kollegen sind
überzeugt davon, dass - weil räumlich-zeitliches Denken der Schlüssel
zu vielen höheren kognitiven Aufgaben ist - eine Stimulierung des
Hirnteils, der mit räumlich-zeitlichem Denken und räumlich-zeitlichen
Aufgabenlösungen zu tun hat, die Begabung einer Person für Mathematik,
Technik, Schach, und Wissenschaft verbessert. Sie bieten sogar ein
Software-Paket an, das ohne Sprache auskommt und das räumlich-zeitliche
Denkvermögen mit Hilfe eines
animierten Pinguins anzukurbeln verspricht.
Shaw und Rauscher haben mit ihren Ideen zwar einen neuen Industriezweig
ins Leben gerufen - aufrechterhalten wird diese Branche jedoch von den
Massenmedien und all den anderen, die daraus eine Art
Alternativ-Wissenschaft d gemacht haben. Übertriebene und irreführende
Behauptungen über die Musik sind inzwischen so alltäglich, dass der
Versuch, sie richtig zu stellen, an Zeitverschwendung grenzt. Jamal
Munshi, ein Professor an der Sonoma State University, sammelt falsche
Berichte und, wie er sie nennt, "Einfaltshäppchen". Er stellt
sie im Internet unter der Rubrik "Weird but True" (verrückt
aber wahr) zur Verfügung, und behauptet noch obendrein, dass Shaw und
Rauscher bewiesen hätten, eine Klangprobe aus der Mozart-Sonate in D-Dur
für zwei Klaviere habe "die SAT-Resultate der Studierenden um 51
Punkte erhöht." Tatsächlich führten Shaw und Rauscher an 36
Studenten einen Test im Papierfalten und -schneiden durch, und stellten
bei der "Mozartgruppe" eine vorübergehende Steigerung um acht
bis neun Punkte immer dann fest, wenn der Test entweder nach einer
Schweigeperiode, oder nach dem Anhören einer Entspannungskassette
absolviert wurde. Munshi behauptet auch, dass die Wissenschaft nicht
erklären kann, warum eine Fliege fliegt. Die
Wissenschaftler arbeiten seit längerem an diesem wesentlichen Problem,
also sollten wir ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Don Campbell ist zugleich der Carlos Castaneda und der Roncalli des
Mozart-Effekts: er bauscht die Arbeit von Shaw, Rauscher und anderen für
seine eigenen Zwecke maßlos auf. Er hat sogar den Ausdruck "The
Mozart Effect" patentieren lassen und geht mit seiner Person und
seinen Produkten auf einer eigenen Website
hausieren. Campbell behauptet, er habe durch Summen, Beten und die Selbst-Suggestion
von einer vibrierenden Hand an der rechten Seite seines Schädels ein
Blutgerinnsel in seinem Gehirn verschwinden lassen. Unkritische Anhänger
der alternativen Medizin hinterfragen seine Behauptung nicht einmal, zumal
es sowieso eine dieser wohlfeilen Behauptungen ist, die weder bewiesen
noch widerlegt werden können. Er könnte genausogut behaupten, die Engel
hätten sein Blutgerinnsel entfernt. Man fragt sich allerdings: wenn Musik
so gesundheitsfördernd ist - warum hat er dann überhaupt erst ein
Blutgerinnsel entwickelt? - Hat er vielleicht versehentlich Rap gehört?
"Die Behauptungen, die Campbell im
Hinblick auf die Musik aufstellt, sind von einer Extravaganz, die dem
Rokoko-Stil angemessen wäre. Und sie sind auch etwa so
realitätsbezogen, wie es der Rokoko einst war. [Campbell behauptet,
dass Musik so ziemlich alles heilen kann.] Seine Beweisführung hat in
der Regel nur anekdotischen Charakter. Und sogar hierbei interpretiert
er einiges gründlich falsch. Die gesamte Struktur seiner Argumentation
kann dem gesunden Menschenverstand nicht standhalten. Wenn die Musik
Mozarts wirklich so gesundheitsfördernd wäre - warum war Mozart selbst
so oft krank? Wenn Intelligenz und Geist durch Mozarts Musik so sehr
gefördert würden - warum sind dann die klügsten und inspiriertesten
Menschen auf der Welt nicht die Mozart-Spezialisten?" --Michael
Linton*
Doch der Mangel an Beweisen in Bezug auf den "Mozart-Effekt"
verhinderte nicht, dass Campbell zum Liebling jener Vortrags-und
Gastredner-Maschinerie wurde, deren Funktionieren von naiven und
unkritischen Zuhörern garantiert wird.
"Wenn [die amerikanische
Frauenzeitschrift] McCall's Ratschläge will, wie man ein Stimmungstief
mit Musik behebt; wenn [der öffentlich Sender] PBS einen Experten dazu
befragen möchte, auf welche Weise die Stimme Energie verleiht; wenn IBM
einen Berater anzuheuern beabsichtigt, damit dieser mit Musik die
Effizienz und Harmonie am Arbeitsplatz steigere; wenn der Landesverband
der Krebs-Überlebenden einen Redner zum Thema "Heilkräfte der
Musik" sucht - stets wenden sie alle sich an Campbell."
(zitiert nach Campbell's Website)*
Die Gouverneure der US-Staaten Tennessee und Georgia haben Programme
gestartet, mit deren Hilfe jedes Neugeborene eine Mozart-CD erhält.
Hunderte von Krankenhäusern wurden im Mai 1999 von der National Academy
of Recording Arts and Sciences Foundation mit kostenlosen
Klassik-Musik-CDs beschenkt. Das sind gut gemeinte Gesten - aber basieren
sie tatsächlich auf stichhaltigen Forschungsbeweisen, die dafür sprechen,
dass klassische Musik die Intelligenz eines Kindes oder den
Heilungsprozess eines Erwachsenen ankurbelt?
Die Frage muss verneint werden, wenn man Kenneth
Steele, einen Psychologie-Professor der Appalachian State University,
und John Bruer, Leiter der James S.
McDonnell Foundation in St. Louis (Missouri) dazu hört. Dem ganzen
Werberummel widersprechend, behaupten sie, dass das Mozart-Hörerlebnis
nicht wirklich intelligenzsteigernd oder gesundheitsfördernd sei. Steele
und seine Kollegen Karen Bass und Melissa Crook sagen, dass sie trotz
genauer Befolgung der von Shaw und Rauscher aufgestellten Protokolle
"absolut keinen Effekt" feststellten konnten, obwohl sie in
ihrer Studie 125 Studenten untersuchten. Sie folgerten daraus, dass "es
nur wenig Grund zur Unterstützung von Interventionsprogrammen gibt, die
sich auf die Existenz des Mozart-Effekts berufen." Ihre Ergebnisse
erschienen in der Fachzeitschrift "Psychological Science" vom
Juli 1999.
In seinem Buch "The
Myth of the First Three Years" ("Der Mythos von den ersten
drei Jahren") kritisiert Bruer nicht nur den "Mozart-Effekt",
sondern auch einige ähnlich gelagerte Mythen, die sich auf
Fehlinterpretationen der jüngsten Gehirnforschung stützen.
Der "Mozart-Effekt" bietet ein Beispiel dafür, wie sich in
unserer Welt die Bereiche Wissenschaft und Medien miteinander mischen.
Eine Andeutung, hingeworfen in einigen Absätzen eines wissenschaftlichen
Journals, mutiert binnen weniger Monate zur allgemein anerkannten
Gewissheit: letzten Endes glauben daran sogar noch jene Wissenschaftler,
die ursprünglich einmal erkannten, wie sehr ihre Arbeit durch die Medien
verzerrt und aufgebauscht wurde. Andere, Profit witternd, schließen sich
der erfolgversprechenden Sache an, fügen dem Ganzen ihre eigenen Mythen,
fragwürdigen Behauptungen und Verzerrungen noch hinzu. Im Falle des
"Mozart-Effekts" schließen sich viele unkritische
Befürworter dem Glauben allein schon deshalb an, weil es sich
schließlich um die Zukunft unserer Kinder handelt. Schon haben wir dazu
Bücher, Kassetten, CDs, Institute, staatliche Programme. Bald schon wird
der Mythos von Millionen Menschen als feste wissenschaftliche Tatsache
akzeptiert. Es gibt nur wenig kritischen Widerstand - weil wir ja bereits
wissen, dass die Musik unsere Gefühle und Stimmungen beeinflusst. Warum
also sollte sie nicht auch unsere Intelligenz und Gesundheit beeinflussen?
Das entspricht doch nur dem gesunden Menschenverstand, nicht wahr? So ist
es - und das ist ein Grund mehr, skeptisch zu sein.
further reading
Bruer, John T. The Myth of the First Three Years (Free Press,
1999) $17.50 |
|