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Falsche Erinnerungen

Das "False Memory Syndrome"

von Robert Todd Carroll
Übersetzung: Larissa Wagner

Mit "false memory" - "falscher Erinnerung" - bezeichnet man die Verzerrung eines tatsächlichen Erlebnisses, oder gar das Erfinden eines vermeintlichen Erlebnisses. Viele solcher Schein-Erinnerungen entstehen durch das Verwechseln und Durcheinanderbringen von Erinnerungen, die vielleicht zu unterschiedlichen Zeiten passiert sind, aber in der Erinnerung zu einem einzigen Ereignis verschmelzen. Eine weitere Ursache für falsche Erinnerungen sind fehlerhafte Erinnerungsquellen. So kann es leicht passieren, dass jemand einen Traum für die Wiedergabe eines realen Erlebnisses hält. Andere Pseudo-Erinnerungen wiederum, sind auf den Einfluss von Therapeuten und Beratern zurückzuführen: Durch Anstacheln, Suggestion und gezielte Andeutungen wird ihren Patienten eine falsche Erinnerung regelrecht "eingeimpft". Elizabeth Loftus, Professorin für Psychologie an der Universität Washington in Seattle, bewies 1994 in einer Studie, dass es für einen Therapeuten relativ leicht ist, eine solch falsche Erinnerung zu erzeugen.

Erinnert sich jemand daran, dass seine Mutter einst ein Glas Milch nach dem Vater schleuderte, obwohl es tatsächlich der Vater war, der das Glas Milch warf, so ist das eine Schein-Erinnerung, die auf einem tatsächlichen Ereignis basiert. Die Person erinnert sich zwar lebhaft an das Geschehen und hat seinen Ablauf geradezu "vor Augen", doch nur die Bestätigung durch andere, die bei dem Ereignis dabei waren, kann letztlich entscheiden, ob die eigene Erinnerung an das Geschehen richtig ist. Verzerrungen, wie etwa die Verwechslung der Rollen, die bestimmte Menschen rückblickend in der Erinnerung gespielt haben, sind durchaus üblich.

Schein-Erinnerung können dramatische Folgen haben. Das zeigen die nachfolgenden Beispiele, die ursächlich auf fehlerhafte Erinnerungsquellen zurückzuführen sind.

So beschuldigte eine Frau den Gedächtnisexperten Donald Thompson, sie vergewaltigt zu haben. Kurz bevor die angebliche Vergewaltigung stattfand, war Thompson in einem Live-Interview im Fernsehen zu sehen gewesen. Die Frau hatte die Sendung gesehen "und anscheinend ihre Erinnerung an ihn aus dem Fernsehen mit ihrer eigenen Erinnerung an den Vergewaltiger verwechselt," schrieb der Psychologe Daniel Schacter 1996 in seinem Buch "Searching for Memory - the brain, the mind, and the past" (deutsch: "Wir sind Erinnerung - Gedächtnis und Persönlichkeit", Rowohlt).

Der große Kinderpsychologe Jean Piaget behauptete, seine früheste Erinnerung bestünde darin, dass er als Zweijähriger beinahe entführt worden sei. Er erinnerte sich genau an die Einzelheiten: wie er in seinem Kinderwagen saß, wie sich sein Kindermädchen gegen den Entführer wehrte, er erinnerte sich an Kratzer in ihrem Gesicht, sowie an einen Polizeibeamten in einem kurzen Mantel, der den Angreifer mit einem weißen Knüppel verjagte. Die Geschichte wurde von dem Kindermädchen und von der eigenen Familie bekräftigt, sowie von anderen bestätigt, die sie gehört hatten. Piaget war davon überzeugt, dass er sich an das Ereignis erinnere. Tatsächlich aber fand es nie statt. Dreizehn Jahre nach dem angeblichen Entführungsversuch schrieb Piagets ehemaliges Kindermädchen an seine Eltern, um ihnen zu beichten, dass sie die ganze Sache erfunden habe. Piaget schrieb darüber später: "Ich musste also als Kind der Erzählung dieser Geschichte gelauscht haben...und habe sie als visuelle Erinnerung in die Vergangenheit projiziert. So war sie zwar eine Erinnerung an eine Erinnerung, aber gleichwohl fiktiv."

Die Erinnerung daran, als kleines, noch nicht einmal dreijähriges Kind entführt worden zu sein, ist geradezu per definitionem eine Schein-Erinnerung. Der für die Langzeiterinnerung benötigte linke untere Stirnlappen ist bei Kleinkindern noch gar nicht entwickelt. Die komplizierte Verschlüsselung, die zur Klassifizierung und Erinnerung an ein solches Ereignis erforderlich ist, kann in einem Kleinkindhirn also gar nicht stattfinden. Das Gehirn von Säuglingen und sehr kleinen Kindern kann jedoch durchaus fragmentierte Erinnerungen speichern. Und das kann später für den Erwachsenen sehr beunruhigend sein.

Schacter verweist auf den Fall eines weiblichen Vergewaltigungsopfers, das sich partout nicht an die Vergewaltigung erinnern konnte, die sich auf einem gepflasterten Pfad abgespielt hatte. Die Worte "Pflasterstein" und "Pfad" beschäftigten diese Frau ständig, aber sie brachte sie nicht in einen Zusammenhang mit der Vergewaltigung. Sie geriet völlig aus der Fassung, als man sie an den Ort der Vergewaltigung zurückführte, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, was dort geschehen war.

Ob die fragmentierte Erinnerung an einen Missbrauch im Säuglingsalter später beim Erwachsenen großen psychischen Schaden anrichten kann, ist allerdings wissenschaftlich bislang nicht erwiesen. Viele Psychotherapeuten vermuten aber, dass eine große Anzahl psychischer Störungen und Probleme auf die Unterdrückung von Erinnerungen an einen sexuellen Missbrauch in der Kindheit zurückzuführen sind. Diese Erkenntnis darf allerdings nicht dazu verleiten, durch die sogenannte "Repressed Memory Therapy (RMT)" - auf Deutsch etwa "Therapie unterdrückter Erinnerungen" - Schein-Erinnerungen bei den Patienten künstlich zu erzeugen.

Viele der von den per RMT neu zum Leben erweckten Erinnerungen kreisen um einen sexuellen Missbrauch - sei es durch Eltern, Großeltern oder Geistliche. Oftmals bestreiten die Beschuldigten, dass diese Erinnerungen echt seien. Die Klagen, die sich gegen die Rolle von Therapeuten bei der Erweckung von mutmaßlichen Schein-Erinnerungen richten, häufen sich. Es ist allerdings gleichermaßen unwahrscheinliich, dass sämtliche dieser wiedererlangten Erinnerungen an einen sexuellen Missbrauch in der Kindheit falsch sind.

Vom aktuellen Stand der Wissenschaft aus betrachtet, ist es fast unmöglich, wahrheitsgetreue Erinnerungen von verzerrten oder nur scheinbaren Erinnerungen zu trennen. Dabei ist allerdings berücksichtigen, dass gewisse Vorgänge im Gehirn einfach notwendig sind, damit Erinnerungen überhaupt erst stattfinden können. Deshalb sind Erinnerungen an einen Säuglingsmissbrauch oder an einen Missbrauch, der stattfand, während man bewusstlos war, mit größter Wahrscheinlichkeit falsch.

Ebenso notorisch unzuverlässig sind Erinnerungen, die durch Träume oder Hypnose hervorgerufen wurden - und dies allein schon deshalb, weil Informationen in Träumen sehr oft zweideutigen Charakter haben. Hypnose und andere Methoden, die sich die Suggerierbarkeit eines Menschen zunutze machen, sollten deshalb nur mit äußerster Sorgfalt angewandt werden.

Durchaus problematisch ist außerdem die Vermischung unterschiedlicher Erinnerungen: einige erinnerte Teile entsprechen den Tatsachen, andere nicht. Zwischen den beiden Arten zu unterscheiden, ist ein schwieriges Unterfangen. Es könnte beispielsweise sein, dass eine Frau ihren sexuellen Missbrauch durch einen Nachbarn oder einen Verwandten während der Kindheit bewusst unterdrückt hat. Ein Erlebnis im Erwachsenenalter löst dann irgendwann stichwortartig die Erinnerung aus. Die Frau entsinnt sich des Missbrauchs und wird fortan von Alpträumen heimgesucht, in denen ihr Vater, ihr Großvater oder der Priester sie missbrauchen. Sie beginnt eine RMT-Behandlung, und nach wenigen Monaten schon, erinnert sie sich lebhaft daran, wie Vater, Mutter, Großvater, Großmutter und Priester sie nicht nur sexuell missbraucht haben, sondern auch an grauenvollen satanischen Ritualen samt Menschenopfern und Kannibalismus teilnahmen.

Wo liegt in diesem Fall die Wahrheit? Die Erinnerungen der Patientin sind echt und grauenvoll, unabhängig davon, ob sie nun der Wirklichkeit entsprechen oder nicht. Und in der Tat wurden schon oft genug Familien aufgrund derartiger Therapien zerstört, ganz gleich, ob die Erinnerungen wahr oder falsch waren.

Sollten solche Erinnerungen also als wahr akzeptiert werden - ohne dass irgendein Versuch unternommen werden müsste, sie zu widerlegen? Es wäre zweifellos unannehmbar, Beschuldigungen des sexuellen Missbrauchs einfach zu ignorieren. Es ist aber ebenso unvertretbar, der Zerstörung von Existenzen und ganzer Familien zuzusehen, ohne zumindest den Versuch zu unternehmen, herauszufinden, ob irgendein Teil der Erinnerungen an sexuellen Missbrauch vielleicht falsch ist.

Es scheint deshalb geradezu unmenschlich, Patienten zu ermutigen, sich an sexuellen Missbrauch - oder etwa an eine Entführung durch Außerirdische - zu erinnern, es sei denn, es existierten wirklich gute Gründe, dies zu tun. Die bloße Annahme, dass sämtliche oder zumindest die meisten unserer emotionalen Probleme auf unterdrückte Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in der Kindheit zurückzuführen seien, ist kein ausreichender Grund dafür, das Leid eines Patienten in Kauf zu nehmen, indem man ihn in trügerischen Überzeugungen bestärkt.

Die Annahme, dass ein Patient von Außerirdischen entführt worden sei, ist, selbst wenn man das Gegenteil nicht beweisen kann, eben kein ausreichender Grund dafür, in ihm eine solche Erinnerung zu erzeugen. Ein verantwortungsbewusster Therapeut hat die Pflicht, einem Patienten zu helfen bei der Trennung von Einbildung und Realität, von echtem Missbrauch und imaginärem Missbrauch. Wenn eine Therapie aber zur Einbildung geradezu ermutigt, dann ist diese Therapie nicht empfehlenswert.

Und diejenigen, deren Pflicht es ist, zu entscheiden, ob eine Person sexuell missbraucht worden ist, oder, ob die Erinnerung an einen solchen Missbrauch eine Pseudo-Erinnerung ist, sollten zumindest auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft sein. Sie sollten sich vor Augen halten, dass wir alle bis zu einem gewissen Grade leicht zu beeinflussen sind, und dass insbesonders Kinder extrem zugänglich für suggestive Fragen sind.

Kinder haben eine rege Phantasie: Wenn ein Kind sagt, dass es sich an etwas erinnert, heißt das noch lange nicht, dass das tatsächlich der Fall ist. Erinnert sich ein Kind nicht an einen bestimmten Vorfall, so ist es zweifellos kein gutes Verfahren, es so lange zu befragen, bis es sich endlich doch daran erinnert.

Den Untersuchungsbeamten, Beratern und Therapeuten sollte auch bewusst sein, dass viele Anklagen und Erinnerungen stark durch die Medien beeinflusst werden. Menschen, die eines Verbrechens angeklagt oder schuldig gesprochen werden, merken durchaus, dass sie mehr Mitgefühl erregen, wenn andere denken, sie seien als Kind missbraucht worden. Und andererseits wissen Menschen, die einen Groll gegen irgendjemanden hegen, sehr gut, dass einen anderen Menschen nichts so schnell zerstört wie eine Anklage wegen sexuellen Missbrauchs. In solchen Fällen wird dem Kläger zudem noch Mitleid und Trost entgegengebracht.

Menschen mit emotionalen Problemen lassen sich außerdem oft besonders leicht durch das beeinflussen, was sie in den Massenmedien lesen, sehen oder hören: etwa Geschichten, in denen ein verdrängter Missbrauch als Ursache für emotionale Probleme bezeichnet wird. So ist es durchaus denkbar, dass ein emotional gestörter Erwachsener einen anderen des Missbrauchs beschuldigt - und zwar nicht etwas deshalb, weil es Anzeichen gibt für einen Missbrauch, sondern deshalb, weil die gestörte Person sich den Missbrauch einbildet oder ihn befürchtet.

Für Untersuchungsbeamte und Richter gibt es also genügend gute Gründe dafür, in derartigen Situationen kein übereiltes Urteil zu fällen.

 

 

 

 

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Robert Todd Carroll
Last updated 11/21/10